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Aus: „Offenbacher Geschichtsblätter” Nr.1, (1949)


– Auszüge aus der Einleitung“ von Lic. Walter Nordmann (mit freundlicher Genehmigung des Offenbacher Geschichtsvereins)


„Die Geschichte hat ... das Wagnis solcher Flüchtlingsansiedlung im ganzen glänzend gerechtfertigt. Gewiß kam es anfangs zu Reibungen. ...Aber das waren Übergangsnöte!
Die anfänglich recht armen und abgerissenen Fremdlinge haben ihrer neuen Heimat als Dank vielfältig Anregung und Auftrieb vermittelt. Sie verschmolzen mit der deutschen Bevölkerung und gaben manchem schwerfälligen Deutschen Beweglichkeit und größere Lebendigkeit. Man sagt, daß der „Berliner Witz“ mit seiner trockenen Schlagfertigkeit in jenen Jahrzehnten entstanden sei, als nach 1685 nahezu ein Viertel der Berliner Bevölkerung französische Glaubensflüchtlinge waren.
Wenn der Berliner heute noch von „ratzekahl“ spricht, meint er das französische „radical“.Auch das kirchliche Leben regten die Fremden an durch das Beispiel ernster Bibelgläubigkeit und das Leidenszeugnis, das in manchem Gesicht zu lesen war, und dessen Schwere noch in gelegentlichen alten Familienüberlieferungen in Deutschland bis heute nachzittert. Am deutlichsten aber waren die Auswirkungen der Einwanderung im allgemein wirtschaftlichen Leben zu spüren. Ganze Wirtschaftszweige sind von den Ansiedlern für Deutschland neu entwickelt worden, andere wurden intensiviert und veredelt. In Brandenburg, wohin sich unter dem Kurfürsten Friedrich Wilhelm der Großteil der Einwanderer gewendet hatte, wurden 65 Erwerbszweige neu eingeführt, die bis dahin unbekannt gewesen waren! Schon in Frankreich hatten die Hugenotten den Ruf besonderer Tüchtigkeit genossen:
Durch Minister Colbert, der das Merkantilsystem zur vollen Höhe entwickelte, lag ein großer Teil des französischen Finanzwesens in ihren Händen. Viele großen Handelshäuser gehörten ihnen, sie waren teilweise im Weinhandel führend, aber auch im Großgewerbe (Tuchwebereien, Seidenspinnereien, Gerbereien). Im Kleingewerbe hatten sie Geschick und reiche Erfahrung als Hutmacher, Handschuhmacher und Lederverarbeiter.
Es war ein schwerer Blutverlust für den französischen Volkskörper, als diese Menschen Frankreich zu verlassen genötigt waren. Der berühmte französische Festungsbauer Vauban hat bereits im ersten Jahr der Auswanderung eine bittere Rechnung aufgestellt, wie hoch dieser Verlust an Menschen und Fertigkeiten wirtschaftlich und militärisch zu berechnen sei. Und nun wurden diese Möglichkeiten Deutschland gegeben! Gewiß nicht allen Hugenotten glückte es, nach der Auswanderung wieder hochzukommen.Viele wurden in Berlin „Sänftenträger“, ein Oberst ernährte sich im Bremen als Schuhmacher.
Aber das waren Ausnahmen! Im ganzen setzte, z.T. schon nach wenigen Jahren, ein deutlicher Aufschwung ein, wobei ein erheblicher Teil der „Neubürger“ selber zu Reichtum gelangte, aber auch der neuen Heimat Wohlstand schenkte. Da waren Tabakanbau und -verarbeitung (als Rauch- und Schnupftabak), völlig neu als Erwerbszweig in der Uckermark (nordöstlich von Berlin). Da war die Veredelung des Gartenbaus, die Hugenotten brachten die bis dahin in Mittel- und Ostdeutschland unbekannten grünen Erbsen, Bohnen, Spargel, Schwarzwurzeln, Blumenkohl, Artischocken, feinere Obstsorten u.a. In Hessen wurden in der Landwirtschaft neu eingeführt:
Lupinen und Esparsette.Auf den hessischen Höfen stolzierten als neue Bewohner die „Truthähne“ herum, während die Berliner sich als Leckerbissen des Fleischgenusses für die „Saucischen“ erwärmten, jene warmen Würstchen, die noch vor 40 Jahren gelegentlich so benannt wurden, während sich danach der Name „Halberstädter Würstchen“ durchsetzte. Zahlreich waren auch unter den Hugenotten die „Zuckerbäcker“ (Konditoren), die, zusammen mit ihren Waldenser Berufskollegen, Torten, Pasteten und anderes Feingebäck heimisch machten. Auch der „Friedrichsdorfer Zwieback“ ist Hugenottenerzeugnis! In der Provinz Sachsen geht die Zuckerrübenverwertung, allerdings erst später, zurück auf den Hugenotten Achard. Das Webereigewerbe, Stickereien, Färbereien, Lein- und Rübölherstellung blühten auf, die Spitzenklöppelei des Erzgebirges ist hugenottischen Ursprungs, Waffenschmiede, Knopfmacher, Strumpfwirker wanderten ein. Im Bankierwesen stellten die Hugenotten viele tüchtige Vertreter, von den 84 Begründern der Börse in Frankfurt am Main waren 6 aus der dortigen franz.-reformierten Gemeinde. Auch als Ärzte,Apotheker und Hebammen waren Glieder der Hugenottengemeinden sehr erfolgreich, nicht minder schätzte man sie als Pädagogen, Hofmeister und Erzieher (Tanzkunst, Anstandslehre). Durch die Verbindung hugenottischen Wagemutes mit deutschem Fleiß sind neue Städte entstanden, so Mannheim und Karlshafen an der Weser, die Neustadt Erlangens und die Oberstadt Kassels. Mit Recht hat man darauf hingewiesen, wie im Leben Goethes der hugenottische Einschlag des Volkslebens spürbar wird: Er besuchte in Frankfurt die Kleinkinderschule einer Hugenottin, hörte als Knabe manchmal die Predigt in der franz.-reformierten Gemeinde in Bockenheim, seine Braut Lili Schönemann stammte aus dem Offenbacher Hugenottengeschlecht d’Orville (mütterlicherseits), der Offenbacher Musikverleger Jean André war sein Freund und komponierte Goethes Singspiel „Erwin und Elmire“.
„Von den Einzelschicksalen, die hinter den Einwanderern lagen, kann hier nicht ausführlich die Rede sein, zumal seit dem Kriege von 1939 eine Welle des Flüchtlingselends in Europa offenbar geworden ist, die jene Ereignisse in den Schatten gestellt hat. Trotzdem sei wenigstens in einem Beispiel die Glaubenskraft der Einwanderer erwähnt. Am Neujahrstage 1711 wurde die Pfarrfrau Francoise Le Fèvre, geb. Guitton, bestattet, wie das Kirchenbuch auf französisch sagt: „Tochter des weiland Edelmannes Herrn Isaak Guitton, zu seinen Lebzeiten Diener am göttlichen Wort und Grundherr von Petit Breuil im Bistum Nantes, wo er auf seinen Besitzungen predigte, und der verstorbenen Frau Francoise Paquesceau, seiner Ehegattin. Die genannte Francoise Guitton war verschieden den Tag vorher gegen 5 Uhr morgens im Alter von 45 Jahren nach einer Krankheit von 3 Monaten und einem Todeskampf von 5 Tagen und 6 ganzen Nächten. Während dieser Zeit wurde sie zu einer einzigartigen Erbauung für jedermann, der sie besuchte, durch ihre große Geduld in den grausamen Schmerzen quälender Wassersucht und eines Asthmas, das sie zuletzt ersticken ließ, wegen ihrer völligen Ergebung in Gottes Willen, wegen ihrer Lösung von der Welt und allem, was ihr sehr teuer war, wegen ihres sehnsüchtigen Wunsches, abzuscheiden und bei Christus zu sein, wegen der Bibelsprüche und herrlichen Worte, die ihr über die Lippen gingen bis zum letzten Atemzug, mit dem sie ihren Geist dem Schöpfer zurückgab. Dies geschah unmittelbar, nachdem sie erkannte, daß ein bisher linderndes Mittel ihr nicht mehr half. Da erhob sie die Hände und sprach:
‘Mein Gott, da es keinen Balsam in Gilead mehr für mich gibt auf Erden, muß ich ihn im Himmel suchen gehen.’ Nie hat eine Frau mehr Liebe für ihren Glauben, mehr Seelengröße, mehr Mut besessen. Als sie mit 20 Jahren aus Frankreich zu fliehen versuchte, wurde sie auf See gefangen und für mehr als 6 Monate in ein Kloster gesteckt. Das hinderte sie nicht, einen zweiten Fluchtversuch zu machen. Nach dessen Entdeckung wurde sie zu Nantes im Gefängnis eingesperrt.
Die Qualen dreier Monate ließen ihr einen Nagel vom großen Zeh abfallen, was ihr für das ganze weitere Leben viel Beschwerden machte. Aber das hinderte sie nicht an einem dritten Fluchtversuch. Gott half ihr und ließ sie glücklich nach England entkommen und von dort nach Holland, wo ihr Vater war. Weil (so schreibt ihr Gatte) meine Gemeindeglieder diese Tatsachen nicht wissen, meinte ich, daß meine Nachfolger Verständnis dafür haben werden, wenn ich dies Zeugnis niederlegte zum Andenken an die Tugend einer Frau, die mir im höchsten Grade teuer war und die dahinging am letzten Tag des Jahres, die aber die Erde an diesem Tag nur verließ, um eine neue, glückselige Ewigkeit im Himmel zu beginnen.“

 

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